Der Fuß aus einem Guss
Karin Bittner verkauft in ihrem Geschäft nicht nur Schuhe, sondern auch orthopädische Einlagen – in Kooperation mit einem Fachbetrieb. Der Aufwand ist groß, aber lohnenswert.
Für Arthur Schopenhauer war das Henne-Ei-Problem eine perfekte Metapher für seine Theorie, dass der Welt kein rationales Prinzip zugrunde liegt. Ob es den Philosophen jemals nach Bad Iburg verschlagen hat, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch: Im Teutoburger Wald hat Karin Bittner eine pragmatische Lösung für ihr eigenes Henne-Ei-Problem gefunden.
Bittner leitet das Schuhgeschäft Frye in dritter Generation. In ihrer Welt nehmen Henne und Ei die Gestalt von Schuhen und Orthopädieeinlagen ein. „Viele unserer Kunden suchen modische Schuhe, die zu ihren losen Einlagen passen“, sagt sie, „oder genau umgekehrt.“ Die Frage, was zuerst angeschafft wird – die Schuhe oder die Einlagen –, ist für Menschen mit Haltungsschäden eine schwierige. Bittners Ansatz: Warum nicht beides gleichzeitig anbieten?
Damit setzt sie auf einen Wachstumsmarkt. Das Geschäft boomt seit Jahren. Nach Angaben des Bundesinnungsver- bands für Orthopädietechnik (BIV-OT) gab die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2018 8,4 Milliarden Euro für ortho- pädische Hilfsmittel aus. 2013 waren es gerade einmal 2,4 Milliarden. Vermitteln Verkäufer ihre Kunden an Orthopäden oder die Orthopäden ihre Patienten an Verkäufer, kann sich die Kooperation aus verschiedenen Gründen lohnen – beson- ders wenn die Händler sich noch mit der Krankenkasse zusammentun.
Der zweite Versuch
Dazu muss man wissen: Schuheinlagen sind keine Massenware, sondern ein Medizinprodukt. Für ihre Herstellung sind in Deutschland Orthopädietechniker zuständig – ein Beruf mit dreijähriger Ausbildungszeit. Sie dürfen Prothesen anfertigen und anpassen, aber auch Bandagen, Korsetts oder Rollstühle.
Seit dem Jahr 2016 kooperiert Frye Schuhe mit dem Orthopädiefachbetrieb Multhoff. Für Karin Bittner ist es bereits die zweite Kooperation mit einem entsprechenden Experten, die erste ging aus verschiedenen Gründen auseinander. Als sie vor einigen Jahren ihr Geschäft umbaute, wollte sie die Zusammenarbeit wieder aufleben lassen und suchte einen Kooperationspartner. Fündig wurde sie 50 Kilometer von ihrem Geschäft entfernt.
In Altenberge bei Münster ist Lukas Multhoff in sechster Generation im Betrieb und betreut unter anderem die Kooperation mit dem Schuhgeschäft. Für ihn habe die Zusammenarbeit nur Vorteile, sagt er: „So müssen wir uns nicht selbst um den Schuhverkauf kümmern.“
Überholtes Klischee
Die Auswahl im eigenen Haus könne mit der von Frye nicht mithalten, weder in puncto Volumen noch bei der modischen Vielfalt. So finden die Kunden Schuhe, die ihnen gefallen, und bekommen direkt passende Einlagen. Die könne er an fast jeden Schuh anpassen, egal ob flacher Sneaker oder Stiefel mit Absätzen. Das Klischee der klobigen Orthopädieschuhe ist längst überholt. Bei Frye versorgen Multhoff und seine Kollegen nun jeden Donnerstagnachmittag die Kunden mit Einlagen, etwa 15 seien es derzeit täglich.
Aufgrund ihrer Erfahrung haben
die Mitarbeiter von Frye ein Gespür dafür,
wer Einlagen benötigen könnte.
Schuhhändler und Orthopäden arbeiten dort Hand in Hand. Aufgrund langjähriger Erfahrung und regelmäßiger Schu- lungen haben die Mitarbeiter von Frye ein gutes Gespür dafür, wer eine Einlage benötigen könnte. Für eine orthopädie-technische Meinung werden die Kunden gerne an Multhoff verwiesen. „Selbstverständlich stellen wir aber keine Diagnosen“, sagt Karin Bittner. Das könne nur ein Arzt. Aber manch ein Kunde besucht den Orthopäden vielleicht auf Empfehlung der Schuhverkäuferin, um am Ende mit dem Rezept seines Arztes bei Lukas Multhoff zu stehen. Der scannt dann die Füße und kann die Einlagen im Idealfall bis zur kommenden Woche anfertigen.
Zwei Paar pro Jahr
Sicher, informelle Kooperationen zwischen Schuhhändlern und Orthopädietechnikern sind nichts Ungewöhnliches. Was die Zusammenarbeit in Bad Iburg besonders macht: Alles ist von der Krankenkasse zertifiziert, die Kunden können die Kosten für die Einlagen dort einreichen. Präqualifizierung nennt sich das. Wer eine entsprechende ärztliche Verschreibung hat, kann sich theoretisch zweimal im Jahr bei Frye bedienen. Das Schuhhaus darf dank der Anerkennung durch die Krankenkasse auch mit der orthopädischen Dienstleistung werben.
Die Voraussetzungen sind durchaus streng, die Krankenkasse kontrolliert die Einhaltung alle 20 Monate. Dazu gehören unter anderem ein abtrennbarer Raum für die Beratungsgespräche der Orthopädietechniker und eine kleine Werkstatt, in der sie arbeiten können. „Gerade diese räumlichen Voraussetzungen hat nicht jeder Händler“, sagt Multhoff. Wer sie hat, kann von einem enormen Wachstumsmarkt profitieren.
Gerade die räumlichen Voraussetzungen
wie einen abtrennbaren Raum oder eine Werkstatt
kann nicht jeder Händler erfüllen
Warum ist Lukas Multhoff dann nur an einem Nachmittag in der Woche bei Frye? Die Antwort, wie in so vielen Branchen: Personalmangel. „Wir würden sicher gerne mehr machen, aber das kriegen wir einfach nicht gestemmt“, sagt Multhoff. Auch Karin Bittner hätte nichts gegen eine engere Zusammenarbeit. Sie denkt derzeit über eine weitere Verbreiterung ihres Angebots nach. „Ich würde gerne noch einen Podologen ins Haus holen“, also einen medizinischen Fußpfleger. Wer weiß, vielleicht wird aus dem Schuhgeschäft Frye dank einer weiteren Kooperation schon bald ein ganzes Fußkompetenzzentrum.
Text: Lars-Thorben Niggehoff
Fotos: Andreas Wiese
Karin Bittner denkt über eine Verbreiterung ihres Angebots nach