An dem Tag, als sein Sohn Christopher einen Ausbildungsvertrag bei der Bank unterschrieb, schien für Hermann Sjut ein lang gehegter Traum zu platzen. Der heute 68-Jährige, der in Schleswig-Holstein gemeinsam mit seiner Frau sechs Schuhläden betreibt, hatte immer gehofft, dass eines der beiden Kinder diese weiterführen würde. Sein eigener Großvater hatte das erste Geschäft einst aus einem kleinen Schuhmacher-Betrieb aufgebaut. Eine Erfolgsgeschichte – bis zu diesem Tag vor 15 Jahren. Nun sah es danach aus, als würde das Familienunternehmen irgendwann in fremde Hände fallen. Die Tochter hatte schon als Teenager verlauten lassen, die Nachfolge nicht antreten zu wollen, sagt Sjut heute: „Sie hatte eine andere Lebensplanung und nun schien auch unser Sohn nach der Schule andere Berufsvorstellungen zu haben.“
In Deutschland sind nach aktuellen Schätzungen knapp 94 Prozent aller 3,6 Millionen Firmen Familienunternehmen. Das Institut für Mittelstandsforschung schätzt, dass in den kommenden fünf Jahren etwa 190.000 davon zur Übergabe anstehen, weil ihre Eigentümer aus persönlichen Gründen aus der Geschäftsführung ausscheiden. Macht 30.000 Übergaben pro Jahr. Gut die Hälfte wird innerhalb der Familie weitergegeben, etwa 18 Prozent von Mitarbeitern übernommen, die restlichen 29 Prozent werden an Externe verkauft. Anders gesagt: Dass der Nachwuchs eines Tages die Verantwortung für den Familienbetrieb auf sich nimmt, ist keine Selbstverständlichkeit. Weltweit schaffen es nur zwölf Prozent der Familienbetriebe in die dritte, nur ein Prozent über die fünfte Generation hinaus. Viele junge Menschen scheuen anscheinend das Risiko einer Selbstständigkeit, manche wollen sich nicht ihr Leben lang an einen Ort binden, wieder anderen fehlt schlicht das Interesse am Geschäft.
Michaela Butz-Späth kennt diese Bedenken nicht. Für die 35-Jährige aus Achern in Baden-Württemberg stand schon früh fest, dass sie eines Tages den Familienbetrieb übernehmen wird: „Ich bin quasi im Schuhkarton geboren“, sagt sie lachend. Als Kind war sie oft mit im Geschäft, als Jugendliche jobbte sie dort in den Ferien. Nach dem Schulabschluss begann sie im Jahr 2008 ein Studium an der dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe und schloss mit dem Bachelor of Arts in der Fachrichtung BWL-Handel ab. Die vorgeschriebenen Praxisphasen machte sie – na klar – im elterlichen Unternehmen. Doch dann wollte sie mal neue Perspektiven bekommen und begann ein Trainee-Programm bei der Schuhkette Görtz, arbeitete in Filialen in Karlsruhe, Stuttgart und Hamburg. „Da stand kurz die Frage im Raum, ob ich als Angestellte weitermache“, sagt sie heute. Doch sie entschied sich dagegen – für ihre Eltern eine große Erleichterung: „Natürlich wünscht man sich, dass das eigene Unternehmen, das wir in zweiter Generation führen, eines Tages an die dritte Generation weitergeht und so die Tradition fortgeführt wird“, sagt Mutter Pia Butz. Dennoch hätten sie und ihr Mann bewusst keinen Druck ausgeübt und nicht versucht, sie zu überreden. „Wir fanden: Sie muss es wirklich wollen.“ Auch Christopher Sjut kam nach dem Abschluss seiner Banklehre an eine berufliche Weggabelung. Einerseits hatte ihn das Geschäft schon immer interessiert, auch während seiner Ausbildung fragte er nach, wie es um die Läden steht, und schaute in die Zahlen. Andererseits hatte er schon als Jugendlicher mitbekommen, wie arbeitsintensiv die Läden für seine Eltern waren und welche Sorgen sie manchmal hatten. Die Familie wohnte über der Zentrale des Schuhladens im kleinen Örtchen Meldorf, ganz nah dran am Geschehen. Wie bei vielen Unternehmerfamilien drehten sich Gespräche beim Abendessen um das Geschäft: Wie läuft es mit dem Umsatz? Wie macht sich der neue Mitarbeiter? Welche Modelle sollen wir ordern? Für Christopher und seine Schwester wirkte das damals eher abschreckend.
In die Freundesbücher seiner Klassenkameraden schrieb er alle möglichen Berufswünsche – mal Pilot oder Arzt, mal Fußballer. „Schuhverkäufer war nie dabei“, sagt er heute mit einem Lachen. Gleichzeitig habe er die Vorteile der Selbstständigkeit gesehen, dass man sich seine Zeit frei einteilen und eigene Entscheidungen treffen kann: „Auch der wirtschaftliche Erfolg war für mich sichtbar.“ Außerdem stand noch die große Frage im Raum: Gibt man einen Betrieb, der seit drei Generationen im Besitz der Familie ist, wirklich aus den Händen? Irgendwann fand Christopher Sjut: Nein, tut man nicht. Da kündigte er bei der Bank und entschied sich, das Abenteuer zu wagen.
Doch bevor er in den eigenen Laden einstieg, rieten seine Eltern ihm dazu, erst mal aus dem kleinen Dorf wegzugehen. In dieser Zeit sollte er sich darüber klar werden, wie sein Berufsleben aussehen soll. Sjut Junior zog für zwei Volontariate in die Landeshauptstadt Kiel und ins nordrhein-westfälische Lübbecke, anschließend studierte er Modemanagement an der LDT Akademie in Nagold. Fünf Jahre dauerte diese Phase. Theoretisch genug Zeit, um es sich doch noch mal anders zu überlegen. Praktisch blieb er dabei: „Ich habe nie zurückgeschaut“, sagt Christopher Sjut heute, „ich wusste, dass das mein Weg ist.“ Seit sieben Jahren leitet er die Schuhhäuser nun gemeinsam mit seinem Vater.
Das Duo kümmert sich um alle Themen gemeinsam, auch zur Bank oder zum Steuerberater gehen sie zusammen. Das funktioniere gut, sagen sie, selbst wenn es mal Differenzen gebe. „Ist einer mal anderer Meinung, wird so lange diskutiert, bis wir eine Einigung gefunden haben“, sagt Christopher Sjut.
Einen anderen Weg hat die Familie Butz in Achern eingeschlagen. Hier teilt man die Arbeit bewusst untereinander auf, so dass jede Generation ihr eigenes Einsatzgebiet hat. Während die Nachfolgerin sich vor allem um Organisatorisches im Hintergrund kümmert und den Online-Shop betreut, sind die Senioren auf der Fläche und bei den Kunden. „Ich bin sehr froh, dass meine Eltern das Ruder nach wie vor fest in der Hand haben“, sagt Michaela Butz-Späth. Nur beim Einkauf der neuen Kollektionen vertrauen sie auf ihr kollektives Wissen und ihre Intuition.
Vater und Sohn Sjut gehen ebenfalls stets gemeinsam auf Einkaufstour. Das soll auch so bleiben, wenn Christopher das Unternehmen Sjut eigenverantwortlich zu Beginn des nächsten Jahres übernimmt. „Sein Wissen und seine Erfahrung“, sagt Sjut, „sind einfach unbezahlbar.“
Text: Marie-Charlotte Maas
Fotos: Per Schorn, Andreas Wiese
Michaela Butz-Späth wusste immer, dass sie eines Tages den Laden ihrer Eltern übernimmt.
Christopher Sjut entschied sich erst später dafür