Wer im Internet erfolgreich sein will, sollte sich kurz fassen. Kaum jemand weiß das so gut wie Zaid Khan. Der amerikanische Ingenieur lud im vergangenen Juli ein Video im Sozialen Netzwerk TikTok hoch. Darin erzählt Khan, dass er neulich den Begriff „Quiet Quitting“ kennengelernt habe. Dabei gehe es mit- nichten darum, seine Festanstellung direkt zu kündigen – sondern nicht mehr zwangsläufig zu versuchen, immer über sich hinauszuwachsen. Man erfüllt weiterhin seine Pflichten. Aber glaubt nicht mehr zwangsläufig, dass der Beruf das ganze Leben bestimmen sollte. „Euer Wert als Mensch“, sagt Khan am Ende, „wird nicht durch Eure Arbeit definiert.“
Das Filmchen, untermalt mit Klavierklängen und sommerlichen Aufnahmen von New York, dauert nur 17 Sekunden – und traf doch den Nerv einer ganzen Generation. Als Reaktion auf Khans Video luden viele Nutzer ihre eigenen Aufnahmen hoch und berichteten unter dem Hashtag #quietquitting von ihren eigenen Erfahrungen. Innerhalb weniger Wochen wurden die Videos knapp 10 Millionen Mal abgerufen.
Wohlgemerkt: Beim „stillen Kündigen“ geht es nicht darum, morgens nicht mehr zur Arbeit zu er- scheinen. Sondern nur noch das absolute Minimum zu erledigen, gewissermaßen eine Art Extremform des Dienstes nach Vorschrift. Und dieser Mentalität eifern aktuell ziemlich viele Menschen nach: Laut einer Studie des renommierten Meinungsforschungsinstituts Gallup machen die „Quiet Quitters“ derzeit mindestens die Hälfte der gesamten amerikanischen Arbeitskräfte aus.
Innovationsforscher verweisen gerne darauf, dass die meisten Arbeitsplätze nicht weniger, sondern mehr Anstrengung erfordern, um Kunden zufriedenzustellen und Konkurrenten auszustechen. Aber offensichtlich wird die Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern von vielen Menschen gerade neu ausgehandelt. Sie machen nur noch das Nötigste und haben keine Lust, die viel zitierte extra Meile zu gehen. Und distanzieren sich gleichzeitig von einem scheinbar feststehenden Element eines gelungenen (Berufs-)Lebens. Dem Mantra nämlich, dass wir unseren Beruf stets mit Leidenschaft ausüben sollten – und am besten mit Liebe.
Um das gleich am Anfang zu sagen: Natürlich ist es besser, seine Arbeit zu mögen, als sie zu verachten. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir sie zwangsläufig lieben müssen. Natürlich ist es besser, Spaß am eigenen Beruf zu haben.
Das heißt aber noch lange nicht, dass er uns jeden Tag Freude bereiten muss. Und natürlich ist es wichtig, etwas gerne zu machen. Aber mindestens genauso wichtig ist es, etwas gut zu können.
Die Rede
Die Entstehung eines Trends lässt sich selten auf ein genaues Datum festlegen. Wenn es um die Frage geht, seit wann genau die Menschen ihren Job lieben sollen, ist das anders: Es begann am 12. Juni 2005.
An diesem warmen Sommertag hielt der Apple- Gründer Steve Jobs eine Ansprache vor Absolventen der Stanford-Universität. Diese „Commencement Speeches“ nutzen die Redner vor allem in den USA gerne dazu, den Anwesenden persönliche Weisheiten mit auf den Lebensweg zu geben. Jobs empfahl den Zuhörern, sich bei der Berufswahl vor allem von emotionalen Aspekten leiten zu lassen:
„Eure Arbeit wird einen großen Teil Eures Lebens ausmachen, und Ihr werdet nur dann zufrieden sein, wenn Ihr Eure Arbeit für bedeutsam haltet“, sagte Jobs, „aber dafür müsst Ihr sie lieben.“ Auf diese Rede beziehen sich vor allem umtriebige Karrierecoaches und erfolgreiche Unternehmer immer noch gerne. Ihr Motto: „Wenn du deine Berufung gefunden hast, wirst du nie wieder einen Tag arbeiten müssen.“
Zugegeben, eine gewisse Passion für die eigene Tätigkeit ist erstmal nicht verkehrt. In Dutzenden von Studien konnten Wissenschaftler ihre Vorteile aufzeigen: Leidenschaftliche Mitarbeiter sind weniger gestresst, motivierter und zufriedener. Sie kommunizieren mehr mit ihren Kollegen und geraten seltener in Konflikte. Irgendwie versteht es sich von selbst: Ein miesepetriger Verkäufer kommt bei keinem Kunden gut an. Und so hat sich nach der Rede von Steve Jobs in den vergangenen Jahren die Annahme verbreitet, dass es für jeden von uns die passende Passion gibt; dass wir nur lange genug suchen müssen, um unseren Traumjob zu finden; und dass wir schlussendlich belohnt werden mit einer Tätigkeit, die uns Zufriedenheit bringt.
Tatsächlich aber mehren sich inzwischen die kritischen Stimmen, die das Dogma der Passion infrage stellen.
Dazu gehört zum Beispiel die amerikanische Autorin Sarah Jaffe. Sie veröffentlichte im vergangenen Jahr ihr Buch „Work won’t love you back“, frei über- setzt: „Die Arbeit wird deine Liebe nie erwidern.“ Auch sie will nicht den Eindruck vermitteln, dass der Job keinen Spaß machen sollte: „Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um glücklich zu sein, Freude zu empfinden und Kontakte zu knüpfen.“ Vielmehr möchte sie daran erinnern, dass das unbedingte Streben nach Glück am Arbeitsplatz häufig falsche Erwartungen wecke.
Der schmale Grat
Pionier der Passionsforschung ist Robert Vallerand, ein kanadischer Psychologe. Er definiert Leidenschaft als „eine starke Neigung zu einer selbst-defi- nierenden Aktivität, die man mag oder liebt, wertschätzt, wichtig findet und in die man deshalb auch gerne Zeit und Energie investiert“. Das soll aber nicht heißen, dass sie per se gut ist.
Vallerand unterscheidet zwischen harmonischer und obsessiver Leidenschaft. Erstere ist sozusagen die gesunde Form: Die Aktivität führt zu vielen unterschiedlichen Erfahrungen, neuen Entdeckungen und unvergesslichen Erlebnissen; deckt sich mit den eigenen Stärken und ergänzt sich mit anderen Tätigkeiten, lässt sich aber trotzdem kontrollieren. Obsessive Leidenschaft hingegen, man kann es sich schon denken, führt langfristig ins Verderben – weil die Betroffenen völlig von der Tätigkeit in Beschlag genommen sind, mitunter die Kontrolle verlieren und sich die Leidenschaft nicht mehr vernünftig mit dem Privatleben vereinbaren lässt.Und das Problem ist: Der Grat zwischen harmonischer und obsessiver Leidenschaft ist schmal – und man merkt erst hinterher, wann man ihn überschritten hat. Aber dann ist es häufig schon zu spät.
Zudem führt das Leidenschafts-Mantra zu einem Irrglauben. Unsere berufliche Tätigkeit ist demnach steter Quell der Motivation und Inspiration – aber so funktioniert das Arbeitsleben nicht. Auf allen Wegen lauern ungeplante Hindernisse, die Inne- halten, Ausweichen oder Umsteuern erforderlich machen. Und diese Stolpersteinen können wir umso leichter beseitigen, je nüchterner wir vorgehen.
Davon ist auch der amerikanische Sozialpsychologe Paul O’Keefe überzeugt. In seinen Studien entdeckte er: Der Glaube an gewisse Passionen führt zu der Annahme, dass damit gewissermaßen unendliche Energie verbunden ist. Bei Schwierigkeiten und Frustrationen geben Menschen, die das glauben, allerdings umso schneller auf. Außerdem zeigen sie sich an neuen Themen wesentlich weniger interessiert – weil sie sich schon auf ihr Spezialgebiet versteift hatten. Aber genau diese gedanklichen Scheuklappen verhindern, dass man neue Interessen entwickelt. Hinzu kommt ein weiteres Dilemma:
Das Gehirn ist nicht dafür ausgelegt,
mit unserem Beruf langfristig eine innige
und emotionale Beziehung zu führen –
und zwar wegen jenes Merkmals,
das die Arbeit von einem Hobby unterscheidet.
Egal wie sehr man seinen Beruf mag: Man übt ihn eben auch aus, um Geld zu verdienen und sich das Leben zu finanzieren – aber das nimmt uns irgendwann zwangsläufig die Freude. Psychologen nennen es den Effekt der Überrechtfertigung: Wer für eine Tätigkeit Geld bekommt, lenkt seine Aufmerksamkeit unbewusst auf diese äußere Belohnung, während die von innen kommende Motivation in den Hintergrund rückt. Deshalb warnt auch die US-Autorin Sarah Jaffe, im Arbeitskontext von allzu großen Gefühlen zu sprechen: „Liebe passiert zwischen Menschen“, schreibt Jaffe, „weil sie im Optimalfall auf Gegenseitigkeit beruht.“ Aber diese Wechselwirkung gibt es im Berufsleben nicht. Ganz im Gegenteil: Wer seinen Beruf zu sehr liebt, riskiert seine seelische und körperliche Gesundheit.
Gefahr des Missbrauchs
Davor warnt zumindest der Managementprofessor Aaron Kay von der Duke University. Er hat sich im Rahmen seiner Forschung auf das Phänomen der passion exploitation konzentriert, was so viel heißt wie „Ausbeutung der Leidenschaft“. In seinen Studien befragte er mehr als 2400 Freiwillige. Egal ob Manager oder Studenten, egal ob es um künst- lerische oder soziale Tätigkeiten ging: Jedes Mal hielten die Probanden es für akzeptabel, leidenschaftliche Mitarbeiter zu zusätzlicher und unbezahlter Arbeit zu zwingen, am Wochenende zu arbeiten oder Aufgaben zu übernehmen, die nicht in ihrer Stellenbeschreibung standen. Der Grund: Die Menschen glauben, dass leidenschaftliche Beschäftigte die Arbeit ja ohnehin gerne machen und daher im Zweifelsfall auch freiwillig unbezahlte Überstunden machen. Motto: Wer eine Aufgabe ohnehin schätzt, dem kann man problemlos noch mehr zumuten. Auch Aaron Kay will seine Forschung nicht als komplette Ablehnung des Leidenschaftsmantras verstanden wissen: „Es ist vielmehr eine Warnung, damit Leidenschaft nicht zu Ausbeutung führt.“
So viel also zu den Argumenten, warum das mit der Leidenschaft am Arbeitsplatz vielleicht doch keine so gute Idee ist. Aber was mache ich nun, wenn ich für meinen Job gerade weder Lust und schon gar keine Liebe empfinde? Heißt das dann zwangsläufig, dass ich mich bei der Berufswahl vertan habe und mir am besten direkt etwas Neues suchen sollte? Mitnichten. Vielmehr kann es nicht schaden, in der Beziehung zur eigenen Arbeit eine neue Nüchternheit einkehren zu lassen.
Offen bleiben
Erstens raten Arbeitspsychologen vor allem zu Offenheit und Ehrlichkeit. Interessen und Leidenschaften können sich im Laufe des Lebens ver- ändern. Wer sich zu früh auf gewisse Bereiche versteift, verpasst womöglich neue Gelegenheiten. Das bemerkte auch der Psychologe Paul O’Keefe vor einigen Jahren. Für eine Studie teilte er Studenten in zwei Gruppen. Der einen Hälfte sagte O’Keefe, dass jeder Mensch gewisse unveränderliche Interessen habe. Der anderen Hälfte teilte er mit, dass sich diese Interessen im Laufe des Lebens durchaus verändern.
Nun sahen beide Gruppen ein leicht verständliches Video über schwarze Löcher. Danach reichte O’Keefe ihnen einen wissenschaftlichen Text zu dem Phänomen. Wer nun schneller das Interesse verlor und nicht lesen wollte? Genau: Jene Gruppe, denen die feststehenden Interessen suggeriert worden waren. Offenbar führt der Glaube an ge- wisse Leidenschaften zum Irrglauben, dass damit sämtliche Motivationslöcher verschwinden. Kommt es dann wider Erwarten doch mal zu Schwierigkeiten, geben solche Menschen schneller auf. Zudem ist es gefährlich, sich bei der Berufswahl auschließlich auf seine Vorlieben zu verlassen. Natürlich ist es nicht verkehrt, etwas gerne zu tun. Für beruflichen Erfolg ist es aber mindestens genauso wichtig, dass man etwas gut kann. Nicht jeder, der mor- gens unter der Dusche gerne singt, hat das Zeug zum Opernsänger. Anders formuliert: Sich bei der Wahl seines Arbeitsplatzes ausschließlich auf seine Präferenzen zu verlassen, kann schnell in die Irre führen – weil die eigenen Kompetenzen genauso bedeutend sind.
Sinn suchen
Der Amerikaner Bill George führte in den Neunzigerjahren den Medizintechnikkonzern Medtronic, der unter anderem Defibrillatoren herstellt – zweifelsohne ein wichtiges Gerät, aber eben auch ein sehr technisches ohne viel Anziehungskraft für die verantwortlichen Vertriebler. Theoretisch zumindest. Praktisch lud der Medtronic-Chef zu Mitarbeiterversammlungen gerne Personen ein, deren Leben durch einen Defibrillator gerettet worden war – und machte damit allen Beschäftigten klar, dass ihre Arbeit Tausende von Leben rettet.
Nun mag nicht jeder Beschäftigte lebensrettende Geräte vertreiben. Aber mit ein wenig Fantasie findet jeder in seiner Tätigkeit einen übergeordneten Sinn oder eine Personengruppe, die davon unmittelbar profitiert. Natürlich könnte man einfach sagen: „Ich verkaufe Schuhe.“ Man könnte aber auch sagen: „Ich helfe Menschen dabei, gesund und bequem durchs Leben zu gehen.“ Klingt esoterisch, aber Studien zeigen: So eine Umformulierung hilft tatsächlich. Die amerikanische Organisationspsychologin Amy Wrzesniewski befragte vor einigen Jahren mehrere Dutzend Reinigungskräfte in einem Krankenhaus. Die eine Hälfte erzählte von ihrer Tätigkeit wie erwartet: Sie fanden den Job langweilig und etwas würdelos, mieden den Kontakt zu Ärzten und Patienten und gingen nur zur Arbeit, um Geld zu verdienen. Die zweite Gruppe hingegen war von ihrer Tätigkeit begeistert. Sie interagierten mehr mit dem Pflegepersonal, den Patienten und den Besuchern. Vor allem aber sahen sie ihre Arbeit in einem größeren Zusammenhang: Ihrer Ansicht nach reinigten nicht einfach nur die Stationen und leerten die Mülleimer – sondern trugen zur Gesundheit der Patienten und zum reibungslosen Funktionieren des Krankenhauses bei.
Stärken nutzen
Irgendwas kann jeder gut. Der eine ist kreativ, der andere besonders humorvoll, wieder andere neugierig oder beharrlich. Und Studien zeigen: Je eher Menschen ihre Stärken einsetzen können, desto besser. Die Psychologen Claudia Harzer und Willibald Ruch von der Universität Zürich befragten vor einigen Jahren knapp 1200 Beschäftigte. Das Ergebnis: Je mehr sie ihre Stärken einsetzen konnten, desto mehr Spaß hatten sie bei der Arbeit, gingen umso mehr darin auf, empfanden sie als sinnvoller und waren insgesamt zufriedener mit ihrem Beruf. Und nicht zuletzt sollte man sich gelegentlich bewusst machen, für wen man morgens in ein Geschäft geht oder sich an einen Schreibtisch setzt.
Wer seine Arbeit gut und gerne erledigt, erhält mit höherer Wahrscheinlichkeit Wertschätzung vom Kunden, Lob von den Kollegen und Anerkennung von den Vorgesetzten. So lässt sich selbst in den scheinbar langweiligsten Aufgaben noch ein höherer Sinn finden.
Wenn die Frage nach dem „Wofür?“ beantwortet ist, fällt die Suche nach dem „Warum?“ wesentlich leichter.
Text: Daniel Rettig
Illustration: Chrissie Salz