Was für Schüler und Schülerinnen in der Corona-Pandemie plötzlich völliges Neuland war – Lernen vorm Bildschirm, statt die Schulbank zu drücken – ist für Unternehmen seit geraumer Zeit die Regel. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden zunehmend digital weitergebildet. Neben Präsenzschulungen, zum Beispiel zur Verbesserung der Kundenkommunikation, ist digitales Lernen auch im Handel angekommen. Wie die Ergebnisse einer Studie des „eLearning Journal“ zeigen, nutzen fast 92 Prozent aller 448 befragten Unternehmen in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung digitale Lernangebote. 16 Prozent der Firmen haben diese erst während der beiden letzten Jahre, also während der Pandemie, eingeführt.
Über eine hohe Nachfrage kann sich auch das HR-Start-up Myagi freuen, das 2014 in Denver (USA) gegründet wurde. Die digitale Schulungsplattform will Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Verkauf Wissen über Produkte vermitteln – ganz einfach per Smartphone oder PC. Laut eigenen Angaben arbeitet das Unternehmen mit mehr als 18.000 Handelspartnern zusammen.
212.000 Menschen, die im Verkauf tätig sind, nutzen die App. In kurzen Lerneinheiten können sie sich zu Produkten weiterbilden, die sie verkaufen, etwa mithilfe von Lernkarten oder Videos.
Das Schuhhaus Hölscher in Emsdetten setzt seit 2022 Myagi als digitale Lernplattform ein. Da- bei greift es auf Inhalte von Modeexperten und Lieferanten zurück. Leon Hüser vom Schuhhaus Hölscher meint: „Sehr interessant ist es, dass wir auch schnell und unkompliziert eigene Inhalte einstellen können. So ist es leicht, allen Mitarbeitern Zugang zu Informationen über unsere neuen Lieferanten oder neue Technologien bei Schuhen speziell für unser Unternehmen zu verschaffen.“ Die Mitarbeiter schätzten es, selbst zu bestimmen, wann und welche Informationen sie nutzen möchten.
Hilfe gegen Fachkräftemangel
Damit liegt Myagi voll im Trend, wie eine Expertenumfrage zeigt, die von Statista in deutschsprachigen Unternehmen durchgeführt wurde. Demnach gaben 90 Prozent der befragten Experten an, dass Videos und Erklärfilme als Lernform künftig eine zentrale Bedeutung in Unternehmen haben werden. Das gilt auch für den Facheinzelhandel für Sport und Schuhe. So setzt SPORT 2000 auf die Zusammenarbeit mit Myagi, um die Verkäufer und Verkäuferinnen der angeschlossenen Händler auch digital zu schulen. Dabei sollen die E-Learning-Inhalte mit Schulungen vor Ort kombiniert werden.
Was genau das bedeutet, erklärt Claire El-Hagge, Trade-Marketing-Managerin der Outdoor-Division bei SPORT 2000. Sie hat das Myagi-Schulungsangebot für das Outdoor-Segment, das als besonders beratungsintensiv gilt, aufgebaut. Dazu hat sie zu vier Kategorien Basiskurse aufgebaut, an denen die Verkaufsmitarbeiter per Myagi-App teilnehmen können: Textil, Schuhe, Stöcke und Rucksäcke. In der Textilschulung lernt das Verkaufspersonal beispielsweise, welche Kundenbedürfnisse eine Drei-Lagen-Jacke bedient und was die Vorteile einer wasserdichten Membranschicht sind. Die Kurse seien markenunabhängig, sagt sie. „Es geht darum, den Verkäufern Basiswissen zu vermitteln.“ Die einzelnen Lerneinheiten würden zwischen fünf und sieben Minuten, in einzelnen Fällen auch bis zu zwölf Minuten dauern. „Wenn im Laden mal Leerlauf ist, können die Mitarbeiter schnell eine Lektion abschließen“, so El-Hagge.
SPORT 2000 wolle mit Myagi nicht die analogen Schulungen ersetzen, sondern sie ergänzen, betont El-Hagge. „Gerade während der Pandemie kamen Weiterbildungen zu kurz. Hier wollen wir mit Myagi ansetzen“, sagt sie. Damit sollen die Partner von SPORT 2000 auch für potenzielle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer attraktiver werden – denn wie in vielen anderen Branchen herrscht auch im Outdoor-Handel Fachkräftemangel. Außerdem würden sich derzeit die Verbraucher mit größeren Einkäufen zurückhalten – umso wichtiger sei es, dass der Sportfachhandel mit qualifizierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen überzeuge.
Seit November wird die Schulungsapp Schritt für Schritt im Outdoorsegment implementiert, seitdem kam jeden Monat eine neue Schulungskategorie hinzu. Einer derjenigen, die das Lernangebot von SPORT 2000 direkt angenommen haben, ist Uwe Mössner, Leiter des Outdoorfachhändlers Adventure Company Freiburg (ADCO). Die digitalen Schulungen seien eine Ergänzung zu den analogen Weiterbildungsabenden, die ADCO sowieso jeden Donnerstag veranstalten würde. Für ihn sei es wichtig, dass seine Angestellten sich gut mit den Produkten auskennen, weil der Händler nur ausgewählte Produkte anbietet. „Wir achten beispielsweise auf Nachhaltikeit: Wenn zwei Produkte gleich gut sind, nehmen wir nur das in unser Sortiment auf, das umweltfreundlicher ist.“ Die Online-Weiterbildung per App soll gerade unerfahrenen Mitarbeitern den Einstieg erleichtern. „Wer gleich von Anfang an viele erfolgreiche Verkaufsgespräche führt, wird selbstbewusster im Job“, sagt Mössner. Er würde beobachten, wie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicherer im Verkauf werden, sagt der ADCO-Chef. Das führt er auch auf die Einführung der Myagi-App zurück. Die Einheiten seien angenehm kurz – so könne ein Verkäufer auch während der Straßenbahnfahrt zur Arbeit schon ein bisschen lernen.
Allerdings: „Erst, als ich betont habe, dass die digitale Weiterbildung auch als Arbeitszeit gilt, haben mehr Mitarbeiter begonnen, sich dafür zu interessieren und die App anzunehmen.“ Mittlerweile seien einige seiner Angestellten begeistert bei der Sache und hätten schon alle Kurse durchgearbeitet.
Text: Judith Henke