Alle wollen Nachhaltigkeit, aber kaum einer weiß, wo er anfangen soll. Hilke Patzwall, Nachhaltigkeitsmanagerin beim Vorreiter Vaude, erklärt, wie Nachhaltigkeit im Textilhandel aussehen kann und wie Vaude versucht, Händler bei der Transformation zu unterstützen.
Es ist ein warmer Augusttag in Tettnang, im Hinterland des Bodensees. Hier, unweit von Deutschlands größtem Binnengewässer, hat der Sport- und Outdoorspezialist Vaude seinen Sitz. Das Unternehmen ist so etwas wie der Musterknabe der Outdoorbranche. Im Interview erklärt die Nachhaltigkeitsverantwortliche Hilke Patzwall, wie Vaude den hohen Selbstansprüchen genügen will.
Frau Patzwall, Vaude sieht sich als nachhaltiges Unternehmen. Ist das nicht ein Oxymoron?Nachhaltigkeit und Profitstreben vertragen sich auf den ersten Blick nicht.
Für uns ist das kein Zielkonflikt, von dieser Überlegung müssen Unternehmen unbedingt wegkommen. Schäden an Menschen und Umwelt sollten nicht der Allgemeinheit und dem Steuerzahler aufgebürdet werden, während die Unternehmen nur Profite mitnehmen. Die Kosten müssen also unbedingt eingepreist werden.
Wie schaffen Sie das aktuell in Einklang zu bringen?
Es hilft sehr, ein Familienunternehmen zu sein. Dadurch sind wir in einer ganz anderen Situation als jemand, der alle drei Monate seine Aktienkurse rechtfertigen muss. Natürlich wollen auch wir Geld verdienen Aber dass wir unsere Ziele setzen können, das hilft natürlich.
Nachhaltigkeit zu etablieren ist schwierig. Wo fängt man da an?
Am Anfang ist das sehr aufwändig und komplex, Daten müssen erfasst und analysiert werden. Aber nur so lässt sich eine transparente und vergleichbare Grundlage schaffen, nach dem Motto: Miss es oder vergiss es. Gleichzeitig haben wir Nachhaltigkeit in unserer Markenpositionierung und im ganzen Unternehmen verankert, bis in die Ziele jedes einzelnen Mitarbeitenden. Wichtig ist, dass man anfängt, trotz komplexer Herausforderungen, Zielkonflikten oder interner Widerstände. Die Akzeptanz wächst, wenn spürbar ist, dass man vorankommt und erste Etappenziele erreicht werden. Wir ermitteln und reduzieren seit über 10 Jahren unsere klimaschädlichen Emissionen am Standort Tettnang, wo wir enorme Einsparungen erreicht haben – nun haben wir uns zudem zu ambitionierten, wissenschaftsbasierten Klimazielen für unsere weltweiten Lieferkette verpflichtet.
Haben Sie Ihre Gehälter in der Führungsetage auch an Nachhaltigkeitsziele geknüpft?
Ja, wir haben ein Mitarbeiterziel-System. Das dreht sich viel um Nachhaltigkeitsthemen. Dazu haben wir alle einen Anteil dabei, der variabel ist und auch auf die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele einzahlt.
Zu konsequenter Nachhaltigkeit gehören auch die Lieferketten mit fairen Arbeitsbedingungen. Gerade die Textilbranche steht in dieser Hinsicht immer wieder Kritik. Wie begegnet Vaude dem?
Die Einhaltung der Menschenrechte in der Produktion ist uns ein sehr wichtiges Anliegen. Wir engagieren uns seit vielen Jahren für gute und faire Arbeitsbedingungen in unserer weltweiten Lieferkette. Gemeinsam mit der internationalen NGO Fair Wear Foundation, die sehr hohe Anforderungen stellt, setzen wir uns für eine kontinuierliche Verbesserung der Sozialstandards ein.
Wie erfüllen Sie diese Kriterien in der Praxis?
Vor allem mithilfe unserer eigenen Teams vor Ort. In Vietnam etwa haben wir Mitarbeitende, die sich ausschließlich darum kümmern, unsere Lieferanten zu überprüfen. Sie sind entsprechend geschult und regelmäßig bei unseren Partnern vor Ort. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine kontinuierliche Überprüfung, ergänzend zu den Fair Wear Audits, die regelmäßig stattfinden. Entscheidend dabei ist auch, dass die Kolleginnen in Vietnam die örtliche Sprache, Kultur und die Gepflogenheiten kennen. Das sorgt einerseits für Vertrauen bei den Lieferanten, andererseits kann man denen auch schwerer etwas vorgaukeln.
Warum produzieren sie überhaupt so weit entfernt? In Deutschland und Europa wäre die Kontrolle doch wahrscheinlich einfacher.
Die gesamte textile Wertschöpfungskette hat sich seit vielen Jahren in Asien etabliert. Daher lässt sich die Produktion nicht so einfach nach Europa verlagern. Dennoch produzieren wir auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Hier in Tettnang haben wir eine eigene Manufaktur, in der wir die Produkte im Hochfrequenzverfahren herstellen, z. B. wasserdichte Radtaschen und Taschen. Wir haben auch Partner in Litauen und Portugal. Grundsätzlich kommt es aber gar nicht so sehr darauf an, wo produziert wird, sondern wie. Und da können wir durch unsere eigenen Teams, Zertifizierungen und Auditierungen einen hohen Standard auch in Asien gewährleisten. Letztendlich ist das auch eine Kostenfrage, das will ich gar nicht leugnen. Die Nähminute ist in Vietnam viel günstiger als in Europa.
Glauben Sie nicht, dass die Kunden bereit wären, diese Mehrkosten zu übernehmen?
Die Bereitschaft, für nachhaltige Produkte mehr Geld zu zahlen, ist heute höher als noch vor einigen Jahren. Aber sie hat auch ihre Grenzen. Es gibt gewisse Preislimits, die auch wir nicht überschreiten können. Deswegen müssen wir uns bei jedem Produkt überlegen, ob die Herstellung in Europa vielleicht möglich wäre, oder ob wir es doch in Asien produzieren. Und manchmal entscheiden wir auch, etwas gar nicht zu produzieren, wenn es unsere eigenen Standards verwässern könnte.
Lohnkosten sind ja nur ein Preisfaktor, Materialien ein weiterer. Auch hier lauern viele Nachhaltigkeitsfallen.
Unsere Rohstoffe für die Textilien kommen fast ausschließlich aus Taiwan, also einem hochentwickelten Land. Entsprechend weit fortgeschritten sind die Themen, die wir mit den Produzenten besprechen, da geht es um Chemikalienmanagement, Ressourceneffizienz und natürlich die Energiewende. Für uns ist es wichtig, möglichst schadstofffrei zu produzieren. Dabei gehen wir auch weit über die gesetzlichen Standards hinaus.
Mit dem ReThink-Konzept versucht Vaude zusätzlich, Materialien möglichst gut recycelbar zu machen. Ist das die Zukunft?
Echtes Recycling bedeutet, dass man Textilien wieder zu Textilien recycelt. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Materialien in dem Produkt möglichst gut wieder trennen lassen bzw. ein Produkt nur aus einem Material besteht. Das klingt vielleicht gar nicht so schwer, aber der Teufel steckt im Detail. Nehmen Sie etwa Polyester: Hinter diesem Sammelbegriff verbergen sich ganz verschiedene Stoffe, die nicht alle auf die gleiche Art recycelt werden können. Sie müssen also auch getrennt werden. Bei unserer ReThink-Kollektion setzen wir dieses Konzept nun um, indem wir wenige verschiedene Materialien verwenden, die gut trennbar sind. Das ist zwar nur ein Anfang, aber damit gehen wir die ersten Schritte in Richtung Recyclingfähigkeit und Kreislaufwirtschaft. Wir möchten dazu beitragen, dass das Bewusstsein für dieses Thema im Handel steigt und ein Umdenken in Gang kommt.
Bisher fehlt das ihrer Meinung nach?
Das Bewusstsein ist kaum da, es werden ja auch kaum Textilien recycelt, weniger als ein Prozent. Es fehlt allerdings auch an einer übergreifenden Infrastruktur. Hier müssen wir ein Umdenken erreichen. Ich muss auch sagen, dass ein Ansatz wie der unsrige extremen Forschungs- und Arbeitsaufwand mit sich bringt, inklusive hoher Kosten. Daher fordern wir gesetzliche Regelungen und begrüßen den Green Deal, der EU-weite politische Rahmenbedingungen vorsieht.
Sie haben auf ihrem eigenen Campus ein Bildungsformat für nachhaltige Entwicklung etabliert, um Händlern Informationen über Nachhaltigkeit und Ihre Produkte näherzubringen. Was erhoffen Sie sich davon?
Die Workshops richten sich vor allem an Verkaufspersonal im Handel. Wir wollen sie fit machen zu Nachhaltigkeitsthemen und auch die Hemmschwelle senken, diese Themen - proaktiv anzusprechen bei Kunden. Sie sollen die Vorteile kennen und auch kritische Fragen beantworten können. Nachhaltigkeit ist heute ein wichtiges Verkaufsargument, das man nutzen sollte.
Und kommt das gut an?
Es wird sensationell gut angenommen, wir erhalten enorm viele Anfragen.
Gut informierte Verkäufer sind das eine, Maßnahmen im eigenen Geschäft das andere. Welche Tipps haben Sie für Händler und Lieferanten, wenn sie nachhaltig werden wollen?
Das ist immer wieder Thema bei unseren Workshops. Wenn man sich die Klimabilanz anschaut, stellt man schnell fest: Der größte Teil der CO2-Emissionen kommt aus der Lieferkette. Der größte Hebel liegt also in der Sortimentsgestaltung. Daneben gibt es viele kleine Stellschrauben, die wichtig sind: Nutze ich Ökostrom? Wie komme ich zur Arbeit, Stichwort Mobilität? Habe ich Fairtrade-Kaffee für meine Mitarbeitenden? Haben wir recyceltes Papier? Da gibt es eine ganze Palette von Maßnahmen, die klein scheinen, aber eine große Wirkung haben und wenig kosten.
Kämpfen Sie aktuell gegen viele Widerstände?
Ich finde es ganz schlimm, morgens die Zeitung aufzuschlagen und Botschaften zu sehen wie: ‚DIE Wirtschaft will das alles gar nicht mit der Nachhaltigkeit und DIE Wirtschaft kann das alles gar nicht.‘ Das ist reine Bequemlichkeit. Nachhaltigkeitsziele umzusetzen, liegt nicht an der Unternehmensgröße oder an der Branche, das liegt am Commitment. Natürlich ist das schwierig, aber worauf wollen wir denn noch warten? Und wenn dann jemand sagt: ‚Wir brauchen die Vorgaben nicht, denn wir verpflichten uns dazu freiwillig und sind schon ganz nachhaltig‘, dann ärgert mich das. Persönlich gesprochen, denke ich, man muss eigentlich noch radikaler, noch klarer werden; noch öfter aufstehen und in der Öffentlichkeit deutlich machen: Das, was Sie sagen, ist Blödsinn, damit zerstören Sie unsere Zukunft. Gleichzeitig brauchen wir verständliche Erklärungen zur Notwendigkeit, um möglichst viele Menschen mitzunehmen.
Sie gehen für die Nachhaltigkeit sogar schon recht radikal vor und streichen bestimmte Sportarten aus dem Sortiment, weil sie mit Klimaschäden in Verbindung gebracht werden. Wie kam es dazu?
Das war eine explizite Entscheidung, weil man ja die Bilder von Himalaja-Expeditionen kennt, was da für Plastik rumliegt oder die Horden von Leuten, die mit Hubschraubern hochgeflogen werden. Da haben wir gesagt: Flüge in entlegene Gebiete der Welt, um den letzten Siebentausender mit allen Mitteln zu besteigen, das ist nicht unsere Zielgruppe. Deshalb bieten wir für solche High-End-Sportarten keine Produkte mehr an.
Wenn Sie schauen, wie die aktuelle Lage ist: Was wünschen Sie sich von der Branche?
Ich würde mir wünschen, dass sie sich alle auf den Weg machen. Jeder noch so steile Weg beginnt mit dem ersten Schritt und jeder kann, muss und sollte seinen Beitrag leisten. Unternehmen sollten auch den größeren Hebel ansetzen, beispielsweise bei Wirtschaftsverbänden: Es ist unerträglich, wenn die immer noch auf der Bremse stehen. Da wünsche ich mir, dass Marken, Händler und Unternehmer sehr viel klarer in Richtung ihrer eigenen Organisation, ihrer Verbände und in der Politik kommunizieren, dass wir schleunigst umsteuern müssen. Das ist immer noch viel zu wenig. Denn es ist nicht so, dass “DIE Wirtschaft” Nachhaltigkeit gar nicht kann oder nicht will. Das stimmt einfach nicht.
Und was wünschen Sie sich von der Politik?
Die Gesetzgeber und Deutschland und Europa haben endlich erste Schritte ergriffen, etwa das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das in Deutschland nun zumindest große Unternehmen betrifft und in größerem Umfang bald auch in der EU in Kraft treten soll. Damit sich im Hinblick auf den Klimawandel wirklich etwas tut, reicht das natürlich nicht. Wenn da jetzt durch ambitionierte, schnell wirksame und verbindliche gesetzliche Regelungen faire Marktbedingungen für alle Akteure geschaffen werden, damit endlich alle ihre Hausaufgaben machen, ist das ein wichtiger Meilenstein in die richtige Richtung.
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Hilke Patzwall ist seit 2006 Nachhaltigkeitsmanagerin
bei VAUDE. In dieser Rolle bemüht sie sich darum, das Thema
in alle Unternehmensbereiche zu integrieren.
Sie ist außerdem stellvertretende Vorsitzende des Beirats Umwelt und
Sport des Bundesumweltministeriums, Sprecherin der Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit
im Bundesverband Deutscher Sportartikelindustrie sowie Mitglied
im Strategiekreis Sorgfaltspflichten im Bündnis für nachhaltige Textilien.
Interview: Kathrin Doleczik
Fotos: Patrick Dopfer