Ein ganz, ganz eigener Sound

Um in der Aufmerksamkeitsökonomie des 21. Jahrhunderts zu bestehen, gilt es für den Einzelhandel, den eigenen Rhythmus zu finden und so zum Taktgeber zu werden.

Bob Dylan war schon im Jahr 1965 eine lebende Legende. Vier Alben hatte der Folk-Musiker herausgebracht, galt als Stimme einer ganzen Generation und Musikrichtung. Er hätte auf seinem fünften Album also alles wieder genauso machen können wie bisher. Er hätte seinen Stil beibehalten können, der bis dahin ein Erfolgsrezept gewesen war. Er hätte die gleichen Melodien und die gleiche Art der Texte schreiben können. Warum schließlich ändern, was ihn bis dahin so erfolgreich gemacht hatte? Jeder andere Musiker hätte das so gemacht. Doch der 1941 geborene Bob Dylan ist eben nicht wie jeder andere Musiker. Auf seinem fünften Album „Bringing It All Back Home” entschied er sich deshalb, elektronische Einflüsse in seine Musik aufzunehmen. Im selben Jahr noch performte er dann sein erstes Konzert in den USA mit einer elektrischen Band – und wurde von einem Teil des Publikums ausgebuht. Auf weiteren Konzerten wurde er mit Spott überzogen und als Verräter beschrien, auch Monate später gab es immer wieder Zwischenfälle bei Konzerten. Das Ganze ging als „Electric-Dylan-Kontroverse“ in die Geschichtsbücher ein und hätte das Ende seines musikalischen Ausflugs sein können. Doch Bob Dylan ließ sich nicht beirren. Er setzte seine Reise fort, experimentierte im Laufe seiner Karriere sogar mit weiteren Musikstilen, darunter der Country-Musik. Gerade dadurch wurde er über die Jahre weit mehr als eine Folklegende. Er wurde ein Weltstar und noch mehr. Heute gilt er als einer der wichtigsten Musiker der Welt, hat sogar einen Nobelpreis für Literatur bekommen. Während viele andere Musikergrößen aus der damaligen Zeit von der Bildfläche verschwunden sind, ist Bob Dylan immer größer und bekannter geworden. Gerade weil er experimentiert hat. Gerade weil er mutig war.

Den eigenen Sound finden

Mal etwas Neues ausprobieren, gegen den Strom schwimmen, um am Ende damit erfolgreich zu sein: Bob Dylan hat mit seiner Entwicklung vorgemacht, wie eine erfolgreiche Wandlung aussehen kann. Davon können sich Händler im 21. Jahrhundert hervorragend inspirieren lassen. Denn eigentlich sind ihre Herausforderungen gar nicht so anders als die vieler etablierter Musiker. Beide Gruppen waren immerhin lange erfolgreich unterwegs, haben sich eine kleine Fanbase aufgebaut und sind zuletzt aber etwas in den Hintergrund gerückt. Nun müssen sie sich fragen: Ist der Sound, den ich gerade spiele, denn wirklich mein Sound – und wie kann der in der Zukunft aussehen? Beide suchen also nach dem optimalen Rhythmus für die Zukunft, der die alten Fans nicht verschreckt, ihnen aber trotzdem neue erschließt. Genau bei diesem Veränderungsprozess können Händler viel aus der Musik lernen. Voraussetzung: Sie müssen die Ohren spitzen. Nötig ist eine Veränderung allemal. Nicht, weil alle Händler einen schlechten Job machen. Sondern weil die Welt sich verändert hat. Im 21. Jahrhundert gibt es für sie viel mehr Konkurrenz im Kampf um die Aufmerksamkeit der Kunden als noch vor zehn, zwanzig oder vierzig Jahren.

Galt der samstägliche Einkaufsbummel mit anschließendem Kaffee in der Innenstadt früher als gesetzt, gibt es heute viel mehr Angebote und Möglichkeiten: Tiktok-Shopping, Online-Einkauf, Überraschungsboxen. Nicht mehr der Zugang zu Schuhen, Sportartikeln und Lederwaren ist begrenzt, sondern die Aufmerksamkeit der Menschen. Um diese buhlen in immer stärkerem Maße weltweit tausende und abertausende Unternehmen, Content-Creator und allerlei Unterhaltungsformate, das Smartphone und nicht zuletzt die Medien. Sich in dieser Welt abzusetzen und in den Fokus der Aufmerksamkeit der Kunden zu rücken, ist für Einzelhändler zuletzt immer schwieriger geworden. Das ist womöglich eine harte Erkenntnis, sie ist aber wichtig. Denn wer das verinnerlicht hat, wird schnell die gute Nachricht dahinter erkennen: Der Kampf um die Aufmerksamkeit ist keinesfalls verloren. Im Gegenteil: Selten war er so offen. Denn dank der Digitalisierung und ihrer eigenen Agilität können Händler es in kurzer Zeit schaffen, einen ganz, ganz eigenen Sound zu kreieren – und sich so gegen die Masse durchsetzen.

Den richtigen Ton beim Kunden treffen

Der erste Schritt auf diesem Weg ist, den richtigen Ton im Umgang mit den Kunden zu finden. Dieser muss gut zur eigenen Marke und dem passen, was man eigentlich verkaufen will. Ein Laden für Extremsport darf in seiner Bildsprache dann durchaus auch mal extremer sein. Ein Laden für Laufbekleidung kann mit einer eigenen Laufgruppe die Menschen ansprechen, und ein Lederwarenhändler darf auch mal zum Workshop über die Herstellung moderner Handtaschen einladen, Weinverkostung inklusive.

Wichtig ist es an dieser Stelle, eine möglichst spitze Positionierung hinzubekommen. Was ist die Geschichte meines Ladens? Was ist mein Sound? Kundinnen und Kunden sollen nachher sagen können: ‚Ach, das ist doch der mit den Events‘, oder, ‚Ach, das ist doch die mit den tollen Ski-Reisen‘. Das schafft Wiedererkennungswert, das schafft eine Zielgruppe. Hier eine zu breite Zielgruppe anzusprechen und es immer allen recht machen zu wollen, hilft nicht. Ist das eigene Konzept zu schwammig, geht man zu schnell in der Masse unter. Stattdessen gilt es, den Blick wieder auf Bob Dylan zu richten: Wer mutig ist und seinen eigenen Weg geht, der wird belohnt.

Hinter der Kulisse alles im Griff haben

Ist der eigene Sound nach außen gefunden, lohnt im zweiten Schritt ein Blick hinter die Kulissen, dorthin, wo die Fans nicht hinschauen können, aber dennoch Exzellenz erwarten. Wenn Weltstars wie Taylor Swift, Iron Maiden oder Bruce Springsteen die Welt bereisen und Konzerte in Europa, Asien oder den USA geben, dann müssen dutzende Trucks mit tausenden Teilen bestens koordiniert werden. Sitzen Schrauben bei einem Scheinwerfer zu locker, funktioniert das Mikrofon aufgrund einer Fehleinstellung nicht oder wurde das Bühnenbild auf dem Weg ramponiert, droht die große Enttäuschung der Fans und auch ein wirtschaftlicher Verlust. Ganz ähnlich ist es auch im Einzelhandel. Denn auch hier erwarten die Kundinnen und Kunden einen reibungslosen Ablauf – Convenience, wenn sie ihre Produkte kaufen, bestellen oder zurückgeben. Klappt das nicht, sind sie genervt und suchen vielleicht das nächste Mal einen anderen Händler auf.

Gleichzeitig können komplizierte Prozesse im Backend dazu führen, dass Abrechnungen, Retouren oder Warenbestellungen sehr aufwendig und damit personal- wie auch kostenintensiv werden. Im schlimmsten Fall werden Teilbereiche unwirtschaftlich. Entsprechend wichtig ist es, ähnlich wie die Popstars dieser Welt, das eigene Unternehmen effizient aufzustellen und die Zusammenarbeit von Handel und Herstellern zu optimieren.Das geht am besten über Kooperationen und Netzwerke, die den Einzelnen entlasten können. Gut ist zudem, dass die Digitalisierung es heute deutlich einfacher macht, effizient (zusammen) zu arbeiten, als noch vor zehn Jahren. Es gibt Schnittstellen und Software, die miteinander interagieren und einfache Benutzeroberflächen, die dabei helfen, die Übersicht über die eigenen Prozesse zu behalten. Händler müssen diese aber auch konsequent nutzen und sich gut überlegen, welche Systeme sie wirklich brauchen – und wo vielleicht der ein oder andere Tour-Truck eingespart werden kann.

Experimentierfreudig bleiben

Hat sich einmal alles eingegrooved, ist das kein Grund, die Füße aufs Mischpult zu legen. Die Welt heute ändert sich schnell und das muss auch für das eigene Geschäft gelten. Um für die Zukunft fit zu bleiben, ist es deshalb unerlässlich, dass Händler immer wieder neue Dinge ausprobieren – ganz ähnlich wie jede Band der Welt. Immerhin kommen sie regelmäßig im Studio zusammen und spielen einfach zusammen, um neue Melodien zu finden. Selten ist bei zehn Treffen direkt ein Album fertig. Im Gegenteil: Die meisten Bands üben und versuchen sich teils über Monate und Jahre hinweg darin, einen für sie typischen Sound zu finden. Manchmal entstehen dadurch gigantische Hits, Erfolge und unvergleichliche Melodien. Darauf lässt sich dann aufbauen. Und manchmal liegen sie eben auch daneben. Ein besonders prominentes Beispiel ließ sich 2006 beobachten, als Robbie Williams das Album „Rudebox” veröffentlichte. Dieses ging eher in die Richtung Rap und war damit sehr anders zu den bisherigen Alben des britischen Popstars. Zwar verkaufte sich die Platte noch zwei Millionen Mal, war im Vergleich zum bisherigen Erfolg aber eine herbe Enttäuschung für Williams. Händler haben einen Vorteil: Sie können experimentieren, in dem sie Kleinigkeiten verändern, um große Effekte zu erzielen und müssen nicht gleich alles auf den Kopf stellen.

Was spricht dagegen, mal eine Hüpfburg zu mieten, damit am Wochenende mehr Eltern mit ihren Kindern in den Schuhladen strömen? Oder warum nicht mal einen Stadtlauf organisieren, um mehr Menschen zum Joggen und dann in den eigenen Sportladen zu bringen? Und warum nicht einmal eine Schnitzeljagd quer durch die nächsten drei Orte organisieren? Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Menschen die Idee ablehnen. Doch auch dann gibt es zwei hervorragende Optionen: Diesen Weg weitergehen und das Konzept vielleicht leicht anpassen. Oder aber die Händlerinnen und Händler machen einen Haken dran und probieren direkt die nächste Idee aus.

Von anderen lernen – und gemeinsam wachsen

Womit wir bei einer ganz wichtigen Komponente für langfristigen Erfolg von Musikern sind: Sie lassen sich von anderen inspirieren. Egal, welcher Musiker oder welche Musikerin jemals zu Vorbildern gefragt wurde, er oder sie konnte spontan fünf oder zehn andere Künstlerinnen und Künstler herunterspulen, meist aus allen möglichen Genres. Michael Jackson beispielsweise soll als Vorbilder unter anderem James Brown und Charlie Chaplin gehabt haben. Madonna soll fasziniert gewesen sein von Schauspielerin Marilyn Monroe. Billy Joel soll bei seinem Welthit „Piano Man” an Bob Dylan gedacht haben. Bob Dylan wiederum schielte mit einem Auge offenbar gern zu Elvis Presley, dem King of Rock. Das Sampling ist sogar ausschließlich daraus entstanden, dass Künstlerinnen und Künstler sich bei anderen bedient und einen ganz eigenen Sound kreiert haben. Der ganz, ganz eigene Sound kann also durchaus daraus entstehen, sich von anderen inspirieren zu lassen oder auch in den Austausch zu kommen. In der Musik ist das das gemeinsame Jammen, im Unternehmensalltag der Erfahrungsaustausch untereinander. Davon darf es gerne noch mehr sein. Gefällt eine gemeinsame Idee dann richtig gut, lässt sich auch darüber reden, zusammen etwas zu erschaffen. Bei Künstlern entstehen so die Features, im Handel die Kooperation. Voneinander lernen lässt sich dabei meist etwas. Worauf also noch warten?

One, two, one, two, three: Go!

Text: Nils Wischmeyer
Illustrationen: Chrissie Salz