WIR Ausgabe 2 Herbst 2022 11 Das heißt aber noch lange nicht, dass er uns jeden Tag Freude bereiten muss. Und natürlich ist es wichtig, etwas gerne zu machen. Aber mindestens genauso wichtig ist es, etwas gut zu können. Die Rede Die Entstehung eines Trends lässt sich selten auf ein genaues Datum festlegen. Wenn es um die Frage geht, seit wann genau die Menschen ihren Job lieben sollen, ist das anders: Es begann am 12. Juni 2005. An diesem warmen Sommertag hielt der Apple- Gründer Steve Jobs eine Ansprache vor Absolven- ten der Stanford-Universität. Diese „Commencement Speeches“ nutzen die Redner vor allem in den USA gerne dazu, den Anwesenden persönliche Weis- heiten mit auf den Lebensweg zu geben. Jobs emp- fahl den Zuhörern, sich bei der Berufswahl vor allem von emotionalen Aspekten leiten zu lassen: „Eure Arbeit wird einen großen Teil Eures Lebens ausmachen, und Ihr werdet nur dann zufrieden sein, wenn Ihr Eure Arbeit für bedeutsam haltet“, sagte Jobs, „aber dafür müsst Ihr sie lieben.“ Auf diese Rede beziehen sich vor allem umtriebige Karrierecoaches und erfolgreiche Unternehmer im- mer noch gerne. Ihr Motto: „Wenn du deine Beru- fung gefunden hast, wirst du nie wieder einen Tag arbeiten müssen.“ ne Tätigkeit ist erstmal nicht verkehrt. In Dutzen- den von Studien konnten Wissenschaftler ihre Vor- teile aufzeigen: Leidenschaftliche Mitarbeiter sind weniger gestresst, motivierter und zufriedener. Sie kommunizieren mehr mit ihren Kollegen und geraten seltener in Konflikte. Irgendwie versteht es sich von selbst: Ein miesepetriger Verkäufer kommt bei keinem Kunden gut an. Und so hat sich nach der Rede von Steve Jobs in den vergangenen Jah- ren die Annahme verbreitet, dass es für jeden von uns die passende Passion gibt; dass wir nur lange genug suchen müssen, um unseren Traumjob zu finden; und dass wir schlussendlich belohnt werden mit einer Tätigkeit, die uns Zufriedenheit bringt. Tatsächlich aber mehren sich inzwischen die kriti- schen Stimmen, die das Dogma der Passion infrage stellen. Zugegeben, eine gewisse Passion für die eige- Natürlich ist es besser, Spaß am eigenen Beruf zu haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass er uns je- den Tag Freude bereiten muss. Dazu gehört zum Beispiel die amerikanische Auto- rin Sarah Jaffe. Sie veröffentlichte im vergangenen Jahr ihr Buch „Work won’t love you back“, frei über- setzt: „Die Arbeit wird deine Liebe nie erwidern.“ Auch sie will nicht den Eindruck vermitteln, dass der Job keinen Spaß machen sollte: „Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um glücklich zu sein, Freude zu empfinden und Kontakte zu knüpfen.“ Vielmehr möchte sie daran erinnern, dass das unbedingte Streben nach Glück am Arbeitsplatz häufig falsche Erwartungen wecke. Der schmale Grat Pionier der Passionsforschung ist Robert Vallerand, ein kanadischer Psychologe. Er definiert Leiden- schaft als „eine starke Neigung zu einer selbst-defi- nierenden Aktivität, die man mag oder liebt, wert- schätzt, wichtig findet und in die man deshalb auch gerne Zeit und Energie investiert“. Das soll aber nicht heißen, dass sie per se gut ist. Vallerand unterscheidet zwischen harmonischer und obsessiver Leidenschaft. Erstere ist sozusagen die gesunde Form: Die Aktivität führt zu vielen unterschiedlichen Erfahrungen, neuen Entdeckun- gen und unvergesslichen Erlebnissen; deckt sich mit den eigenen Stärken und ergänzt sich mit an- deren Tätigkeiten, lässt sich aber trotzdem kontrol- lieren. Obsessive Leidenschaft hingegen, man kann es sich schon denken, führt langfristig ins Verder- ben – weil die Betroffenen völlig von der Tätigkeit