WIR Ausgabe 3 Frühjahr 2023 13 gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaft- lichen Rahmenbedingungen nicht umsetzbar. Das kann man so sehen. Aber das ist nutzlos. Produk- tiver ist die Haltung des jungen niederländischen Autoren Rudger Bregman. In bester Tradition Ernst Blochs und Frithjof Bergmanns glaubt er an eine Utopie, die ungewöhnlich erscheint und der doch eine große Zukunft hat: die Utopie für Realisten. Aus einer Utopie, die nie zu erreichen scheint, Besonders in der Arbeitswelt hält er solche Utopien für möglich und setzt dabei auf den so- genannten „Pygmalion-Effekt“. Diesen hat in den 1960er-Jahren der US-Psychologe Robert Rosenthal entdeckt und beschrieben. Er besagt: Wenn Lehrer oder Führungskräfte ihren Schülern oder Mitarbeitern besonders viel zutrauen und ihnen mehr Verantwortung übertragen als er- wartet, steigt nicht nur die Leistung erheblich, sondern auch die Zufriedenheit mit Schule und Arbeit. Sie wird so zu Arbeit, die wir wirklich wirklich wollen. wird somit eine Utopie, die längst in greifbarer Nähe ist – für jeden Einzelnen. Und wenn wir uns dann anschauen, welche Unternehmen für die Umsetzung geeignet sind, dann wird klar: Unter- nehmen, die Mitarbeitern in kleineren Einheiten bei flachen Hierarchien viel Freiheit und Gestal- tungsraum geben und doch als Verbund zusam- menhalten. Das ist keine Theorie, sondern Praxis. Ein Vorreiter war der Folien- und Spezialstoffher- steller Gore. Unternehmenseinheiten und einzelne Fabriken haben dort nie mehr als 150 Mitarbeiter und organisieren sich weitgehend selbst. Der Schweizerische Pharmariese Novartis geht zur- zeit einen ähnlichen Weg der Aufteilung in kleine- re Zellen unter dem überraschend provokanten Motto „Unboss the company“. Das international expandierende niederländische Pflegeunterneh- men Buurtzorg setzt sehr erfolgreich auf radikales Wachstum in kleinen, autonomen Zellen von zehn bis fünfzehn Pflegekräften. Im Handel gibt die große Drogerie-Kette DM den kleinen Teams in jeder Filiale ungewöhnlich hohe Freiheiten, sich selbst zu organisieren. Gleiches gilt für die Teams und Stores des kultigen schweizer Ta- schen-Labels Freitag. In der kleinen Einheit mit großem Freiraum liegt eine große Chance – auch und gerade für den Handel. Zwar wird der Diskurs zu New Work in Deutsch- land dominiert von den HR-Abteilungen von Großunternehmen und Beratern, die diese in New- Work-Projekten beschäftigen. Eine Konferenz jagt die nächste, auf der sich die New-Work-Commu- nity selbst feiert und diese Feier dann auf LinkedIn oder Xing bildreich teilt. Ein gutes Geschäft ist eines, das für alle Betei- ligten gut ist: Händler und Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter, Nach- barschaften und die Innenstädte. Doch wer in die Unternehmen reinhorcht und nachfragt, wieviel mehr an Freiheit, Selbstverant- wortung, Sinn, Entwicklung und soziale Verant- wortung von den Events in den Unternehmensall- tag der Großorganisationen hineinwirkt, und ob das Gerede über New Work zu Arbeit führt, die man wirklich, wirklich will, dann lautet die Ant- wort oft: eigentlich gar nicht. Gelebt wird New Work hingegen schon lange an Orten, an denen der Begriff nicht diskutiert wird. Die Wertschöp- fung dort ist oft Dienstleistung, also wo Men- schen anderen Menschen einen Dienst erweisen. An diesen Orten spürt man oft schon beim ersten Betreten ein hohes Maß an Kollegialität, das so- ziale Bindung und persönliche Weiterentwicklung ermöglicht. An diesen Orten wird niemand über- vorteilt, denn es gelten die Regeln des ehrbaren Kaufmanns. Ein gutes Geschäft ist eines, das für alle Beteilig- ten gut ist. Mit allen Beteiligten sind gemeint: Händler und Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter, Nachbarschaften und die Innenstädte, in denen gute Geschäfte für Leben und Bindung sorgen. Jeder gute Händler weiß, wovon die Rede ist. Denn sein Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, der diesem Idealbild möglichst nahekommt. Der Einzelhandel ist also vielleicht genau das, was viele große Unternehmen gern wären: eine sehr konkrete Utopie.